Komplexität und Klarheit – Über die Essenz abstrakter Malerei

I. Die begriffliche Verwirrung – Warum jede Malerei abstrakt ist

Es gibt kaum einen kunsttheoretischen Begriff, der so häufig verwendet und zugleich so missverstanden wird wie der Begriff der Abstraktion. Er scheint vertraut, und doch führt er zuverlässig in begriffliche Verwicklungen: Abstrakt, gegenständlich, ungegenständlich, non-representational, Figuration, Narration – alles wird nebeneinander und durcheinander gebraucht, als handele es sich um selbstverständliche Kategorien, deren Grenzen fest und unproblematisch wären. Dabei zeigt sich rasch: Der Begriff der Abstraktion ist selbst ein Produkt abstrakter Denkoperationen, und wer über Abstraktion spricht, bewegt sich unweigerlich bereits innerhalb ihres Territoriums.

Im Kern beginnt das Problem schon bei der Wahrnehmung. Wenn ich einen Baum sehe und ihn male, versuche ich nicht, einen Baum „wiederzugeben”. Ich versuche, die unendlich komplexe räumliche, materielle, atmosphärische Erfahrung eines Baumes in ein System von Linien, Flächen, Verdichtungen und Relationen zu überführen. Ich verarbeite Licht, Schatten, Raum, Oberfläche, Volumen – und setze sie in ein Medium um, das diese Phänomene nicht besitzt, sondern nur bezeichnet. Schon darin liegt der Grundvorgang jeder Abstraktion: Ich löse aus dem Wahrgenommenen jene Strukturen heraus, die bildnerisch tragfähig sind. Jede Malerei ist daher notwendigerweise abstrakt, weil sie immer ein Herauslösen, ein Verdichten, ein Weglassen ist.

Dass ausgerechnet die naturalistische Malerei als das „Nicht-Abstrakte” gilt, beruht auf einem Trugschluss: Die Ähnlichkeit zwischen Bild und Welt verschleiert die abstraktiven Operationen, die ihr zugrunde liegen.

Der unschuldige Blick – Gombrichs Einsicht

Der Kunsthistoriker und Wahrnehmungstheoretiker E.H. Gombrich hat das präzise auf den Punkt gebracht: There is no innocent eye. Kein Blick ist unschuldig, keiner unvermittelt. Wir sehen die Welt nicht „wie sie ist”, sondern durch interpretierende Modelle, kulturelle Muster, Erfahrungen, Erwartungen hindurch. Wahrnehmung ist kein neutrales Registrieren, sondern ein aktiver, ordnender Prozess. Diese Einsicht trifft den Kern der Abstraktion: Sie zeigt, dass wir die Welt niemals ungefiltert erfassen und dass die Malerei folglich nie eine reine Abbildung sein kann. Auch die scheinbar gegenständliche Malerei operiert mit Schemata, Formen, Vereinfachungen, konzeptuellen Verdichtungen – kurz: mit Abstraktionen.

Diese erkenntnistheoretische Grundlage macht es notwendig, zwischen verschiedenen Ebenen des Begriffs zu unterscheiden.

Drei Ebenen der Abstraktion – Methode, Stil und das Dazwischen

Ich verwende „Abstraktion” im ursprünglichen Sinn des lateinischen abstrahere: als Herauslösen des Wesentlichen aus dem Wahrgenommenen. Diese Abstraktion ist eine Methode, keine Stilrichtung. Sie ist das, was geschieht, wenn man Strukturen aus der flüchtigen Komplexität der Welt herausdestilliert, um sie bildnerisch zu organisieren. Das unterscheidet sich deutlich vom kunsthistorischen Stilbegriff der „abstrakten Malerei”, der seit dem frühen 20. Jahrhundert vor allem nichtgegenständliche Bildformen bezeichnet, jene Kunst, die bewusst auf Wiedererkennbarkeit verzichtet und die im amerikanischen Diskurs treffend als non-objective bezeichnet wird.

Zwischen diesen Polen existiert jedoch ein drittes Feld, das in kunsthistorischen Debatten oft zu kurz kommt: Es gibt Arbeiten, die aus der Wahrnehmung hervorgehen, deren Ursprung aber so weit transformiert wurde, dass er nicht mehr identifizierbar ist. Eine Malerei kann vollständig aus Naturbeobachtung gespeist sein und dennoch vollkommen ungegenständlich erscheinen – nicht, weil sie sich von der Natur entfernt, sondern weil sie deren strukturelle Prinzipien weitergedacht hat. Und es gibt die umgekehrte Bewegung: nichtgegenständliche Kunst, die nicht von Wahrnehmung abstrahiert, sondern in radikaler Selbstreferenz operiert – als Regelwerk, als Feld von Kräften, als autonome Formlogik.

Doch selbst an diesem Punkt stellt sich die Frage: Kann der Mensch überhaupt außerhalb der Wahrnehmung tätig werden?

II. Strukturelle Wahrheit statt äußerer Erscheinung

Wenn man die Malerei als ein System begreift, das Wahrnehmung nicht imitiert, sondern neu organisiert, wird deutlich, dass der Prozess der Abstraktion weit mehr ist als Reduktion oder Vereinfachung. Abstraktion ist der Versuch, die strukturelle Wahrheit eines Phänomens zu erfassen – nicht seine äußere Erscheinung.

Picassos Stier – Abstraktion als Extraktion

Besonders anschaulich wird das an Picassos berühmter „Stier”-Serie. Dort wird in einer Sequenz von Zeichnungen sichtbar, was Abstraktion tatsächlich bedeutet: ein fortgesetztes Herauslösen und Prüfen, ein langsames Verdichten, ein Gleichgewicht zwischen Verlust und Gewinn. Am Ende der Serie steht ein Stier, der nur noch aus wenigen Linien besteht. Doch diese Linien sind nicht Ergebnis eines theoretischen Programms, sondern eines experimentellen Weges, an dessen Ende nicht die Verarmung steht, sondern eine Form von Klarheit. Der Stier wurde nicht „wegabstrahiert”, sondern gefunden, im Sinne einer Extraktion: Der visuelle Reichtum wurde nicht abgebaut, sondern in Struktur überführt.

Ähnliches zeigt sich im Blick auf den Baum.

Van Gogh und die energetische Struktur der Natur

Genau diese Art von Denken liegt auch der Malerei zugrunde, die sich auf Wahrnehmung bezieht, ohne naturalistisch zu sein. Das Beispiel Van Gogh zeigt das exemplarisch. Was er aus der Landschaft gewinnt, ist kein Abbild, sondern eine energetische Struktur: Wirbel, Richtungen, Bewegungen, Rhythmen. Die Natur ist für Van Gogh nicht Gegenstand der Abbildung, sondern Fundort struktureller Prinzipien: Richtungen, Rhythmen, Energieverhältnisse. Er transformiert Wahrnehmung in Material, Bewegung und Farbspannung. Damit demonstriert er die grundlegende Wahrheit, dass Malerei aus der Welt schöpft, aber eine Welt eigener Art erzeugt.

Diese eigenständige Realität der Malerei wird oft übersehen, gerade in Diskussionen über Abstraktion und Gegenständlichkeit.

Malerei als autonomes Medium – Bildnerische Ontologie

Man spricht gern so, als gäbe es eine einfache Opposition zwischen Abbild und Form, als stünden sie sich unversöhnlich gegenüber. Doch selbst die hyperrealistische Malerei ist nicht identisch mit dem, was sie zeigt. Sie überführt Wahrnehmung in einen Bildkörper, der eigene physische Eigenschaften besitzt: Pigmentlagen, Schichtungen, Glanzgrade, absorbierende und reflektierende Oberflächen. Ein hyperrealistisch gemalter Apfel ist nicht der Apfel – aber er besitzt eine eigene, bildspezifische Materialität, die nicht weniger konkret ist als die des Gegenstands. Dieser Umstand macht die Malerei zu einem autonomen Medium: Sie ist nicht Abbild, sondern bildnerische Ontologie.

Diese doppelte Bewegung – Abstraktion als Transformation des Wahrgenommenen und Malerei als Erzeugung einer eigenen Materialwelt – führt zwangsläufig zur Einsicht, dass die Unterscheidung zwischen gegenständlich und ungegenständlich nur begrenzt trägt.

Gegen Greenberg – Die Widerlegung der Reinheitsdoktrin

An dieser Stelle wird deutlich, warum die Reinheitsdoktrin Clement Greenbergs heute kaum mehr Überzeugungskraft besitzt. Greenberg verortete die Zukunft der Malerei in der Überwindung des Gegenständlichen, in der Konzentration auf Fläche, Farbe, Form und Materialität. Greenbergs Forderung nach medium specificity – der Konzentration auf die Eigenmittel des Mediums – implizierte eine lineare Entwicklung zur Flächigkeit. Doch seine teleologische Erzählung ist weder historisch noch wahrnehmungstheoretisch haltbar. Die Malerei hat sich nicht von der Gegenständlichkeit befreit – sie hat deren Bedingungen neu definiert.

Dass heute eine so große Vielfalt an Positionen nebeneinander existiert, dass Gegenständlichkeit und Abstraktion sich mischen, überlagern, auflösen oder bewusst ineinander umschlagen, zeigt eher die Lebendigkeit des Mediums als irgendeine historische Notwendigkeit.

III. Abstraktion als Erkenntnisverfahren

Wenn Abstraktion als Herauslösen des strukturell Tragfähigen aus der Wahrnehmung verstanden wird, dann ist sie nicht nur eine künstlerische Methode, sondern ein grundlegendes menschliches Erkenntnisverfahren. In diesem Sinn ist Abstraktion nicht exklusiv an die Kunst gebunden, sondern verbindet die Malerei mit anderen Feldern, von der Wissenschaft bis zur alltäglichen Wahrnehmung.

Das wissenschaftliche Modell – Newton und die abstrakten Gesetze

Die Wissenschaft liefert hierfür das deutlichste Modell: Sie operiert nicht mit der Wirklichkeit selbst, sondern mit Reduktionen, Vereinfachungen, idealisierten Konstruktionen. Ein physikalisches Gesetz ist kein Abbild der Natur, sondern eine Struktur, die aus Phänomenen herausdestilliert wurde, um sie verständlich zu machen.

Isaac Newton beobachtete fallende Gegenstände, Planetenbahnen, Pendelbewegungen – und überführte diese Beobachtungen in abstrakte mathematische Gesetze. Diese Gesetze sind nicht „die Wirklichkeit”, aber sie machen die Wirklichkeit durch Vereinfachung und Generalisierung beschreibbar. Abstraktion ist hier kein Verlust, sondern eine Form von Erkenntnisgewinn. Das gilt für nahezu alle Wissenschaften: Die Biologie abstrahiert von der unüberschaubaren Fülle individueller Lebewesen zu Systemen und Klassen, die Psychologie abstrahiert von individuellen Erfahrungen zu kognitiven Mechanismen, und sogar die Mathematik – oft als reine Denkdisziplin betrachtet – ist historisch aus konkreten Problemstellungen der Erfahrungswelt hervorgegangen.

Diese Verfahren sind der Malerei weniger fremd, als es auf den ersten Blick scheint.

Die Illusion der autonomen Form

Vor diesem Hintergrund erscheint die Vorstellung einer „rein formalen” Kunst, wie sie von manchen non-representationalen Positionen behauptet wird, in einem anderen Licht. Die Idee, dass Form sich aus sich selbst heraus generieren könne, dass ein Bild aus reinen bildimmanenten Kräften entstehe, unabhängig von Erfahrung und Wahrnehmung, ist verführerisch, aber nicht haltbar. Auch dort, wo Form autonom zu sein scheint, ist sie gespeist von Erfahrungen, inneren Modellen, kulturellen Visionsmustern. Die Gestik eines Künstlers, die Energie eines Strichs, die Entscheidung für eine bestimmte Rhythmisierung oder Verteilung von Dichten – all das sind Bewegungen, die aus dem Körper kommen, und der Körper wiederum ist ein Wahrnehmungsknotenpunkt, der sich in der Welt ausgebildet hat.

Es ist kein Zufall, dass selbst viele radikal ungegenständliche Malerinnen und Maler – von Kandinsky bis Pollock, von Agnes Martin bis Julie Mehretu – wiederholt auf die Natur verweisen, wenn sie über ihre Arbeit sprechen: auf Landschaften, Atmosphären, topografische Strukturen oder Bewegungsmuster. Nicht als Motive, sondern als Erfahrungsräume, die in formale Entscheidungen einfließen. Die vermeintliche Autonomie der Form ist immer eine sekundäre Autonomie, eine spätere Stufe, die auf Erfahrungsräumen aufbaut und ohne sie nicht entstehen könnte.

Auch die Vorstellung, dass Malerei „sich selbst genügen” müsse, dass sie keine äußere Referenz brauche, führt oft in eine Sackgasse.

Richter als Gegenbeweis – Die produktive Gleichzeitigkeit

An dieser Stelle muss man die historische Position Clement Greenbergs kritisch hinterfragen. Greenberg postulierte eine mediale Reinheit, eine Entwicklung der Malerei hin zur Flächigkeit, zur Selbstreferenz, zur Eliminierung mimetischer Elemente. Doch seine Vorstellung von Reinheit ignoriert die grundlegenden Erkenntnisbedingungen menschlicher Erfahrung. Malerei, die sich ausschließlich auf ihre eigenen Mittel zurückzieht, ohne sich in irgendeiner Weise auf Wahrnehmung zu beziehen, verliert nicht nur die Verbindung zur Welt, sondern auch die Möglichkeit, die eigene Struktur zu schärfen. Sie verharrt in einem geschlossenen System, das sich selbst genügt, aber nicht lernt.

Gerhard Richter hat diesen Widerspruch auf eine Weise sichtbar gemacht, die kaum übertroffen werden kann. Sein Werk zeigt eine radikale Gleichzeitigkeit von Abstraktion und Figuration, von Wahrnehmungsbezug und Materialprozess. Es zeigt, dass Malerei nicht zwischen beiden Polen wählen muss. Vielmehr wird die eigentliche bildnerische Energie erst dort sichtbar, wo sich die beiden Verfahren gegenseitig befragen, herausfordern und ergänzen. Richters fotobasierte Bilder abstrahieren durch Unschärfe, Verzerrung, Übermalung – während seine abstrakten Bilder Wahrnehmungsstrukturen aufnehmen, die aus Licht, Bewegung und Dichte heraus gewonnen sind. In beiden Fällen entsteht eine Materialrealität, die sich nicht auf den Ursprung reduzieren lässt: Die Welt verwandelt sich in Malerei, und die Malerei verwandelt sich in Welt.

Wer Abstraktion ernst nimmt, erkennt daher, dass sie kein Weg von der Natur weg ist, sondern ein Weg tiefer in sie hinein.

IV. Komplexität und Struktur – Malerei als Erkenntnismethode

Wenn Abstraktion weder als Stil noch als Fluchtbewegung verstanden wird, sondern als strukturierendes Verfahren, das die Wahrnehmung in eine eigene Materialrealität überführt, dann stellt sich die Frage, wie diese Verfahren konkret funktionieren. Welche Operationen führen dazu, dass aus der unüberschaubaren Vielheit der Erscheinungen jene Formen entstehen, die in einem Bild Bestand haben? Und was bedeutet es, die Welt nicht nur wahrzunehmen, sondern in einem Bild so zu organisieren, dass sie eine eigene Ordnung bildet?

Hier beginnt jener Bereich, in dem die Praxis der Malerei selbst zur Theorie wird – nicht im Sinne eines illustrierenden Beispiels, sondern als eigenständige Erkenntnismethode.

Die Natur als strukturelles Reservoir

Jede Malerei, die ernsthaft betrieben wird, ist eine Untersuchung: eine Laborarbeit an Phänomenen, an Strukturen, an Dichten und Kräften. Sie ist ein System im Werden. Die Malerei ist nicht das Nachvollziehen eines Motivs, sondern die Entwicklung eines Denkraums, der im Material sichtbar wird.

Dass die Natur uns unablässig Phänomene liefert, die strukturell reich sind – Verzweigungen, Schichtungen, Überlagerungen, Faltungen, Wiederholungen, Rhythmen –, ist keine Nebensächlichkeit. Es ist der Grund, warum Wahrnehmung für die Formbildung unverzichtbar bleibt. Die Welt produziert Muster, und Malerei übersetzt diese Muster in Bildprozesse. Gewisse Prinzipien der Natur – Wachstum, Verzweigung, Akkumulation, Erosion, Mutation – sind im Kern abstrakt, auch wenn sie in wahrnehmbarer Gestalt auftreten. Die Malerei kann diese Prinzipien aufnehmen, transformieren und in eine neue, bildnerische Logik überführen.

Jede ernsthafte Malerei arbeitet daher mit einer Form von Komplexitätsmanagement.

Das Wechselspiel von Wahrnehmung und Abstraktion

Die Malerei, die daraus entsteht, ist nicht gegenständlich im engeren Sinne, aber auch nicht losgelöst von der Welt. Sie befindet sich in einem Zwischenraum, in dem Abstraktion immer wieder zur Wahrnehmung zurückkehrt und Wahrnehmung zur Abstraktion führt. Dieses Wechselspiel ist nicht zufällig, sondern notwendig. Denn eine Abstraktion, die nicht mehr mit der Welt resoniert, verliert an Spannung. Und eine Wahrnehmung, die nicht abstraktionsfähig ist, verliert an Tiefe.

Hier zeigt sich ein Punkt, der für die Theorie der Malerei entscheidend ist: Abstraktion ist keine Entfernung von der Wirklichkeit, sondern eine Art, sie zu durchdringen.

Komplexität als Rohmaterial der Klarheit

Die Auseinandersetzung mit Komplexität ist kein theoretisches Nebenthema, sondern das grundlegende Terrain, auf dem Malerei operiert. Ein Bild ist erfolgreich, wenn es die Komplexität der Welt nicht verdrängt, sondern in eine neue, lesbare Ordnung überführt – wenn es eine Wirklichkeit schafft, die in sich schlüssig ist. Dabei gilt: Komplexität ist kein Selbstzweck. Sie ist das Rohmaterial, aus dem Klarheit gewonnen wird. Nicht im Sinne von Simplifizierung, sondern im Sinne von strukturellem Verständnis.

Wenn man so auf Malerei blickt, löst sich der Gegensatz zwischen abstrakt und gegenständlich auf.

V. Malerei als Medium struktureller Erkenntnis

Wenn man den Begriff der Abstraktion aus der engen Umklammerung seiner kunsthistorischen Verkürzungen befreit, entsteht ein anderes Bild von Malerei. Sie erscheint nicht als Entweder-Oder – gegenständlich oder ungegenständlich –, sondern als ein Erkundungsraum, in dem beides aus demselben Grundimpuls hervorgeht: dem Wunsch, die Welt zu verstehen. Malerei abstrahiert nicht, weil sie nicht anders kann, sondern weil sie im Prozess des Abstrahierens jene Ordnungen sichtbar macht, die in der Wahrnehmung selbst verborgen liegen.

In der gegenwärtigen Kunstdebatte spielt diese Sichtweise eine überraschend geringe Rolle.

Malerei im Zeitalter der Medienkonkurrenz

Zu oft wird die Malerei entlang von Kategorien sortiert, die historisch zwar bequem, aber theoretisch unzureichend sind. Man spricht von Rückkehr der Figuration, Renaissance der Abstraktion, von Post-Conceptual Painting oder von Hybridisierung, als wären dies wesentliche Differenzen. Doch die lebendigste Malerei der Gegenwart – egal ob sie aus New York, Berlin, São Paulo oder Seoul stammt – zeugt von etwas anderem: von einer grundlegenden Bereitschaft, Form nicht als Stilentscheidung zu behandeln, sondern als eine erfahrungsbasierte, erkenntnisorientierte Operation.

Dass dabei die Komplexität der Welt nicht verdrängt, sondern transformiert wird, ist die entscheidende Bewegung. Malerei, die Komplexität nicht strukturiert, bleibt dekorativ. Malerei, die Komplexität verleugnet, bleibt banal. Doch Malerei, die Komplexität in Material verwandelt, erzeugt eine Form von Realität, die wir nur im Medium des Bildes finden. Darum konnte Malerei weder durch Fotografie, noch durch Film, noch durch digitale Medien abgelöst werden. Jedes neue Medium hat die Malerei dazu gezwungen, ihr Profil zu schärfen – aber keines hat ihr Terrain übernommen. Diese historische Beharrlichkeit ist kein Anachronismus, sondern ein Indikator dafür, dass Malerei etwas leistet, das sich nicht substituieren lässt.

Sie erzeugt eine zweite Realität eigener Art: eine Realität aus Pigment, Bindemittel, Zeit, Handlungen, Schichtungen, Widerständen, Entscheidungen.

Abstraktion als Motor der Transformation

Sie ist eine Form von Weltbau. Wer sagt, Malerei sei „Ab-Bild”, unterschätzt, dass das Bild eine eigene Materialität besitzt, die nicht bloß Stellvertreter der sichtbaren Welt ist, sondern deren strukturelles Gegenüber. Abstraktion spielt hier eine doppelte Rolle. Sie klärt die Welt, indem sie sie transformiert. Und sie klärt das Bild, indem sie es strukturiert.

In dieser Hinsicht ist Malerei dem Denken näher als der Mimesis. Sie bildet nicht ab, sie bildet aus. Sie verdichtet Erfahrungen, Wahrnehmungen, Hypothesen, Ordnungen in eine Bildwirklichkeit, die weder zufällig noch beliebig ist. Und gerade deshalb ist sie ein Medium, das Komplexität nicht scheut, sondern produktiv macht. Je komplexer die Welt, desto hochfrequenter wird das Bedürfnis nach dieser Form der Klarheit.

Abstraktion – im ursprünglichen, nicht im stilistischen Sinn – ist dabei der entscheidende Motor. Sie ermöglicht den Übergang von Wahrnehmung zu Bild, von Phänomen zu Struktur, von Erfahrung zu Material. Und sie erlaubt es, jene unsichtbaren Schichten der Wirklichkeit sichtbar zu machen, die in der reinen Wahrnehmung zwar erfahren, aber nicht benannt werden können.

Darum bleibt Malerei in einer digitalen Gegenwart nicht nostalgisch, sondern notwendig. Sie ist kein Rückzugsraum vor der Welt, sondern ein Reflexionsraum über sie. Sie ist nicht der Schatten der Wahrnehmung, sondern ihre Erweiterung. Und sie ist nicht ein Medium unter vielen, sondern eines, das durch seine materialgebundene Form eine unvergleichliche Denkbewegung hervorbringt: die Fähigkeit, Komplexität in Klarheit zu überführen, ohne sie zu verraten.

Vielleicht liegt genau darin die ungeheure Vitalität der Malerei heute. Sie kehrt nicht zurück, weil sie verloren war. Sie bleibt, weil sie ein Medium der strukturellen Erkenntnis ist – nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Materialgebundenheit.