Prof. Dr. Andreas Kühne

DIE METAMORPHOSEN DES WÜRFELS

Andreas Kühne
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Zu den Papierarbeiten von Christoph Kern
“Bißweilen umb ergetzligkeit und erquickung willen meines gemüts” habe er “eine sehr liebliche und holdselige Kunst in wesenlichen Gebrauch und ubung gehabt und daran mein ubrige zeyt und weyl angewendet«, schrieb der Nürnberger Goldschmied Wenzel Jamnitzer 1568 in der Widmungsvorrede seines zeichnerischen Lebenswerkes, der »Pespectiva corporum regularium«, an seinen kaiserlichen Gönner, den “Allerdurchleuchtigsten Groszmechtigsten und unuberwindtlichsten Fürsten und Herren Maximiliano«.

Wenzel Jamnitzer ist mit dieser »Perspectiva« nicht nur eine äußerst kunstvolle und präzise Darstellung der fünf platonischen Körper und ihrer perspektivischen Variationen gelungen, sondern zugleich auch eines der ersten seriellen bildnerischen Werke der deutschen Kunst. Mit den Mitteln eines kalkulierten wir würden sagen konzeptionellen Umgangs mit Tetraeder, Hexaeder, Oktaeder, Dodekaeder und Isokaeder gelang es ihm, durch Kombination und Variation, Abschneiden und Hinzufügen einzelner Körpersegmente abstrakte Bildsequenzen aufzubauen, die von den einfachsten Grundformen bis in bizarre manieristische Phantasiewelten führen. Warum sich der bekannteste Goldschmied der deutschen Renaissance, der mit den Produkten seiner Werkstatt mehrere europäische Fürstenhöfe belieferte, dieser Jahrzehnte währenden Mühe unterzogen hat – darüber läßt sich nur spekulieren. Von einer direkten praktischen Nutzbarkeit für die angewandten Künste waren seine zeichnerischen Variationen weit entfernt. So läßt sich davon ausgehen, daß ihn vor allem die Lust am gestalterischen Erkenntnisgewinn, die sich nicht unmittelbar in ein gewinnträchtiges Kunst-Werk umsetzen ließ, zu dieser Anstrengung beflügelt hat.
Denn »wenn ich auch«, schrieb Jamnitzer weiter, »durch schwere langweylige weg gefüret dadurch ich offtermals verdrossen und müd wordenl nichts deste weniger hat mich imerdar die grosse begirde, guter lust und naigung so ich zu derselbigen Kunst so lange zeyt getragenl dabey unabiessig erhaltenl bisz ich endtlich zu jetzt … zu einem solchem fruchtbarn, nutzlichen auch gewissen und leychtem wege und Intention komen bin. Derwegen … und meinem darin angewendeten fleisz und arbeit«, hat er es »nit unterlassen können«, eine »kleine anzeigung an tag zu geben.”
Diese, von seinem Freund und Weggefährten Jost Amman radierte »kleine anzeigung” gehört zu den frühesten Zeugnissen einer Kunst in der »Gepyrge, Schlösser, Stett und Dörffer” den geometrischen »Corpora« gleichgestellt und durch den Gesichtssinn begriffen werden. Jamnitzers Künstler- und Handwerkerkollege Johannes Lencker verwendete anstelle der platonischen Körper räumlich dargestelle Buchstaben »römischer und antiquitetischer Schriften«. In Lenckers ebenfalls 1568 erschienener »Perspectiva Literaria« zeigt er über viele Variationsstufen hinweg, »wie man alle Buchstaben des gantzen Alphabets durch sondere kunstliche behende weys und weg, so biszhero nit ans liecht kommen, in die Perspectif einer flachen ebnen bringen mag.«
Auch wenn diese, hochgradig analytischen Formen zeichnerischer Kombination und Variation am Ende der Renaissance an Bedeutung verlieren und teilweise auch wieder vergessen werden, bleibt die »ars combinatoria« ein Teil der -via regia«, des königlichen Weges zu den Künsten und Wissenschaften. Für Kaspar Knittel im 17. Jahrhundert hat der Weltenschöpfer als erster die »ars combinatoria« ausgeübt und mit ihrer Hilfe die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen geschaffen. Zu Beginn des Zeitalters der Aufklärung leitete der Schweizer Mathematiker Jakob Bernoulli seine »ars conjectandi«, die Kunst der Vermutung«, mit einem Hohelied auf die Vielfalt ein, die sich sowohl in den Werken der Natur und des Menschen manifestiere. Aus der verschiedenen Zusammensetzung, Vereinigung und Gruppierung der Phänomene erwachse die Schönheit des Weltalls.
In der Malerei des Barock (s. a. 0. Bätschmann, Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik, 1984) gab es nach der herrschenden gesellschaftlichen Übereinkunft ein vollkommenes Werk ebenso wenig wie einen vollkommenen Künstler. Eine künstlerische Arbeit mußte nicht zwangsläufig so gestaltet sein, wie sie sich am Ende darstellte, sie konnte auch ganz andere Formen annehmen. Die bildnerischen Werke führten nicht nur zu Variationen, wie Poussins vielfache Wiederholungen des gleichen Themas zeigen, sondern befanden sich auch häufig im Stadium des Übergangs in andere Werke.
Claude Monet schließlich, der mit seinem impressionistischen Oeuvre bereits an der Schwelle der Moderne stand, versuchte nicht nur die vielfältigen Wirkungen des Lichts auf naive Weise zu variieren. In seinen Bilderserien waren bereits konzeptionelle und prozessuale Momente enthalten, die eine systematische Annäherung an ein Motiv ermöglichten.
Der in Berlin und München arbeitende Christoph Kern thematisierte in seiner Arbeit schon während seines Studiums an der Kunstakademie München Entstehungsprozesse gemalter Bilder. Bald schon nach seinem Umzug nach Berlin 1989 begann er die Schnittstellen zwischen computererzeugten Bildern und der traditionellen Malerei und Zeichnung zu untersuchen. Anders als der Amerikaner Mel Bochner entwirft er mit seinem »Bildbausatz« keine postmodernen Paraphrasen der bereits klassisch gewordenen konstruktiven Kunst. In Christoph Kerns Bildserien, einem »work in progress«, werden abstrakte Gestaltungsvorgänge und strukturelle Prozesse sichtbar und damit sinnlich erfahrbar gemacht. Er variiert seine Ausgangssituationen, das heißt am Computer generierte Skizzen oder Konstruktionen so lange, bis sich Resultate einstellen, die geeignet erscheinen, als separate Bilder weiter bearbeitet zu werden. Seine VISPATS (= visual patterns) sind die spielerischsten Arbeiten innerhalb des »Bildbausatzes«. Hier werden die »Bauklötze«, die den von Wenzel Jamnitzer 400 Jahre zuvor verwendeten Hexaedern erstaunlich ähnlich sehen, in Bewegung versetzt. Die Verwendung eines 3 D Konstruktionsprogrammes erlaubt es, nicht nur Licht, Schatten und Farbe, sondern auch die Perspektive einer stetigen Veränderung zu unterziehen. Die Umsetzung auf Papier erfolgt mit dem traditionellen
Handwerkszeug des Malers, dem Pinsel und Aquarellfarben, oder dem Bleistift. Diese prozessuale Vorgehensweise erzählt auf abstrakte Weise von den Abenteuern der Bildwerdung. Die gespiegelten Gegenstände sind dabei sekundär, sind nur um der einfacheren Demonstration willen »Bauklötze« und keine Gebirgslandschaften oder Seestücke. Die analytische, immer von vergleichbaren Bedingungen ausgehende Arbeitsweise Christoph Kerns führt überraschenderweise am Ende jedoch nicht nur dazu, die Phänomene besser sehen und diskutieren zu können, sondern auch zu einer neuen Form von Transzendenz, die nicht an ein tradiertes Ritual gebunden ist. »Der Zauber eines Kunstwerkes tritt nach seiner Entmystifizierung erst zutage. Er wird sich keinswegs verlieren«, kommentiert der Künstler selbst diesen Wandel von der analytischen zur transzendenten Qualität seines »Bildbausatzes«. Gott erschuf den Menschen nach seinem Ebenbild und zierte ihn »an seinem Leyb mit zweyen schönen liechtern, damit anzuschauen die Cörper und Geschöpff und zu erkennen … «, heißt es bei Wenzel Jamnitzer.

Justin Hoffmann – Die Quadratur der Malerei

Die Quadratur der Malerei

Zu den Arbeiten von Christoph Kern

Von Justin Hoffmann
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Quadratur: Inhaltberechnung einer beliebigen Fläche; Planetenstellung rechtwinklig zur Verbindungsache Erde-Sonne; eine architektonische Konstruktionsform, bei der ein Quadrat zur Bestimmung konstruktiv wichtiger Punkte verwendet wird.

1. Die Kunst des 20. Jahrhunderts als eine Geschichte des Würfels und des Quadrats

Das Fenster wird geschlossen. Das Gemälde ist nicht mehr Ausblick, sondern wird zum eigenen Körper, zu einem Gegenstand, mit einer ihm immanenten Struktur. Im Geiste des Materialismus und Wissenschaft suchten die Künstler nach den Elementen, aus denen das Gemälde aufgebaut ist. An der Wende zum 20. Jahrhundert kamen sie zum Resultat, daß der Bildgegenstand zwar nicht aus Atomen und Molekülen, aber aus geometrischen Körpern besteht, bestehen könnte.

Die Malerei der Moderne und die auf planimetrischen Körpern gebaute Bildstruktur ist eng mit dem Namen von Paul Cézanne verbunden. Denn Cezanne war es, der den Impressionismus wieder zu etwas Festem und Beständigen führen wollte. "Man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kegel und Kugel (...)" , sc20151210__MG_0054-QBS-002hrieb er 1904 an Emilie Bernard. Dabei wird die Bildwirklichkeit vom Betrachterstandpunkt abgelöst und in einen konstruktiv umwandelbaren Zusammenhang transformiert. Damit unterliegt das Bildgefüge eigenen Baugesetzmäßigkeiten. Der Künstler bestimmt die tektonische Lagerung der Körper oder Bilddinge. Gestalten wird Realisation. Trotzdem bleiben die Werke Cézannes stets Malerei in einem sensualistischen, taktilen Sinne. Mit Farben evoziert er Kontraste und "Modulationen" - einen Begriff, den Cézanne vom Bereich der Musik übernahm. Mit ihnen erichtet er sein Bildgefüge. Aus kohärenten Flächen von Farbflecken bringt er Körper hervor. "Flächen in der Farbe, Flächen! Der farbige Ort, wo die Seele der Flächen in eins schmilzt, die Wärme des Prismas, die man erreicht, die Begegnungen der Flächen in der Sonne (...)" , bekundet der Künstler euphorisch. Die Töne ergeben wie von selbst das Bild.

Auf Kasimir Malewitschs "Schwarzes Quadrat" aus dem Jahr 1915 fällt der Kubus gleichsam in sich zusammen und reduziert sich auf eine frontale Ansicht, auf eine quadratische Fläche, auf ein dunkles Tor, das den Weg ins Unendliche bahnt. Ein Naturbezug ist nicht mehr zu erkennen. Dieses Werk, eine Inkunabel der Malerei des 20. Jahrhunderts, evoziert statt dessen eine imaginäre, virtuelle Dreidimensionalität. Später, in den Werken von El Lissitzky und Josef Albers erhält das Quadrat wieder eine unmittelbar räumliche Dimension, ohne dabei auf die Zentralperspektive zurückzugreifen, bei Lissitzky durch den strukturell-architektonischen Gebrauch des Quadrats und bei Albers durch den Farbkontrast. Dabei stellt diese ideale Form für Albers eigentlich nur das Mittel dar, um die Wechselwirkung der verschiedenen Farbtöne und Helligkeiten systematisch zu erforschen. In der Minimal Art der sechziger Jahre wird das Ausdruckspotential des Künstler gänzlich auf wenige, axiomatische Kategorien begrenzt. Besonders im Oeuvre von Sol LeWitt gewinnt der Kubus nun als reinste dreidimensionale Form, die auf nichts als sich selbst verweist, wieder eine zentrale Bedeutung in Malerei und Skulptur. Mit der Welle der Neogemeometrie und des Radical Painting in den achtziger Jahren erfüllten Kubus und Quadrat eine differente, eine metaphorischere Funktion. Peter Halley bespielsweise nennt die Formen im Zentrum seiner Bilder, welche meistens Quadrate sind, "cells". Sie sind von einem klar abgesetzten Bildraum umgeben. Die Farbstreifen oder -bänder, die diese beiden Bereiche miteinander verbinden, haben diagrammatischen Charakter. Sie lassen an die Leitungen, Kanäle und Kabel, die von einem urbanen Bauwerk ausgehen, denken und verweisen somit auf die Organisation der Logistik und Kommunikation in einer Großstadt. Die Bildkomposition repräsentiert somit die rationale Strukturierung unserer Lebenswirklichkeit.

2. Ambivalenzen

In gewisser Weise ist es paradox, wenn Christoph Kern ausgerechnet Würfel und Quader für seine Beschäftigung mit Malerei heranzieht. Denn der Kubus als mathematisch-konstruierte Form, als objektiv berechenbarer, geometrischer Körper stellt ein Fundament des rationalen, kartesianischen Denkens dar, während das Malen als subjektive Geste, behaftet mit Elementen des Zufällig-Flüssigen, dagegen als Ausdruck der handwerklichen, individuellen Herstellung gelten kann. In der Darstellung von Würfeln oder Quadern sind die gestalterischen Spielräume deutlich begrenzt. Entsprechend ambivalent verhält es sich, wenn Christoph Kern bei seiner Arbeitsweise von einem System spricht, denn Malerei, gerade wenn sie Spuren des Herstellungsprozesses hinterläßt, kann nie wirklich im Sinne eines wissenschaftlichen Anspruchs systematisiert werden. Das System bleibt hier ein stets subjektives und offenes. Es fungiert als ein Weg, sich auf bestimmte Ausdrucksmöglichkeiten zu konzentrieren. Das System des Bildbausatzes erinnert nicht allein wegen ihren Namensnähe zu Bauklötzen an die Regeln eines Spiels, eines Spiels, dessen Reglement sich mit jeder neuen Runde wieder ändern kann.

Gewöhnlich besteht der Malakt darin, auf den Malakt zu reagieren. Es werden Markierungen gesetzt, Farbe hingestrichen, Zonen geklärt und Flecken verwischt. Bei Christoph Kern ist dieser Malprozeß mit der Idee der Darstellung geometrischer Körper, von sogenannten Bausätzen verbunden. Wobei der Künstler darauf achtet, jeden narrativen Ausdruck zu vermeiden. Dem Betrachter erscheinen die geometrischen Figuren als Faktum, als Ereignis. Farbe und Körper werden dabei zu einer sensitiven Einheit. Obgleich der Malakt die Handlung ist, die diese Körper hervorbringt, steht sie diesem Vorhaben aber auch im gewissen Sinne entgegen. Denn Malerei und Körper scheinen sich in ihren Ambitionen zu widersprechen. Wenn Kern seine Bausätze produziert, dann streckt er mit seinen Pinselstrichen beispielsweise Flächen in die Länge, rundet Ecken ab oder entschärft Kanten. So als wenn die Maßeinheit, das Medium Malerei eine Verzerrung dieser elementaren Körper verlangen würde, als wenn man die figurativen Einheiten durch transzendente, der Malerei immanente Einheiten ersetzen müßte. "Wie das Auftauchen einer anderen Welt", bescheibt es Gilles Deleuze", "denn diese Marken, diese Striche sind irrational, unwillkürlich, zufällig, frei, planlos. Sie sind nicht-repräsentativ, nicht-illustrativ, nicht-narrativ. (...) Sie sind Empfindungsmarken, allerdings von verworrenen Empfindungen (die verworrenen Empfindungen, die man bei der Geburt mitbringt, sagte Cézanne)." In diesem Sinne muß das von Christoph Kern entworfene System als ein relatives, da nach subjektiven Kriterien erstellt, begriffen werden, das den Künstler aber vor dem Chaos, dem unendlichen Potential der Abstraktion zu bewahren weiß.

Auch eine Grundfläche dient ihm als Halt. Um seine Körper positionieren zu können, brauchte er eine Ebene, ein geeignetes Plateau, eine Spielfläche, die, da sie Raum andeuten soll, sich nach hinten auszudehnen scheint. Dabei entsteht eine Spannung zwischen der Bildfläche, die dem Betrachter frontal entgegentritt, und der Ebene, die er als den Boden, auf dem die geometrischen Figuren stehen, wahrnimmt.

Stets muß der Künstler darauf achten, das figurative Gefüge der Bildgegenstände und die konstitutiven Aspekte der Malerei aufeinander abzustimmen. Die Flecken, Zonen und Striche müssen mit den Repräsentationen von Würfeln und Quadern suggestiv harmonisieren und sich in einem visuellen Ensemble zusammenfinden. Der Farbauftrag erzeugt die faktischen Möglichkeiten, die Disposition, die den Eindruck von klaren, einfachen Körpern evozieren soll. Dabei nimmt der Betrachter alle diese Faktoren, die zwischen den Polen Ordnung und Chaos angesiedelt sind, nicht separat und nacheinander, sondern gemeinsam und ganz unmittelbar als pikturale Erfahrung wahr.

3. Gebaute Malerei

Christoph Kern ist kein Purist Clement Greenbergscher Prägung. Er läßt assoziatives Wahrnehmen ausdrücklich zu. An seinen Kompositionen kann der Betrachter durchaus eine symbolische Ebene entdecken. Und identifiziert man die geometrischen Formen als Körper auf einer Ebene, wie auf einem Tisch liegend, und betrachtet die Darstellung somit als Stilleben, liegt man keineswegs fehl. Christoph Kern ist in der Tat ein Bewunderer der Stilleben Morandis und kann sich in der Iteration, in der Variation des scheinbar Gleichen, auf diesen Maler mit Recht berufen. Nimmt der Rezipient Kerns Formationen aber in einem ganz anderen, größeren Maßstab wahr, kann er darin sogar Entwürfe von Stadtlandschaften, Gemälde von Architekturen erkennen. Sein "Bildsystem Bildbausatz" enthält nicht von ungefähr das Wort "Bau". In der Tat ähnelt die Tätigkeit des Malers Christoph Kern, der eines Architekten oder Stadtplaners. Auf einer festgelegten Fläche werden elementare Ordnungsprinzipien erprobt und modellhaft vorgeführt, so als wenn ein Stück Land zu bebauen wäre.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß seit Beginn der Moderne in der Architektur noch viel mehr als in der Malerei und der Bildhauerei die einfachen geometrischen Formen eine dominante Stellung einnahmen, die erst mit postmodernen und dekonstruktivistischen Strömungen kurzzeitig verloren ging. Aber auch in der Architektur der Gegenwart besitzt der Kubus eine zunehmende Bedeutung. Den quadratischen Raster findet man heute an Bauwerken so unterschiedlicher Architekten wie Richard Meier, Arata Isozaki und Peter Eisenman. Owald Mathias Ungers wählte das Quadrat und damit den Kubus als Ausgangsform für Architekturen, die nicht von einer Funktion bestimmt, sondern selbst Ausdruck einer architektonischen Sprache sein sollen. Das Quadrat bildet für ihn dabei die ideale, klare, zeitlose Form. Es wurde zum Kennzeichen seiner Bauweise.

Im Vorwort zu seinem Buch "Gesellschaft als Imagination" bezeichnet der Philosoph Cornelius Castoriadis seinen Text als work in progress und schreibt dazu: "Eigentlich sollte das eine Selbstverständlichkeit sein: Bei einer Arbeit der Reflexion ist es für den Leser keineswegs von Vorteil, das Baugerüst abzubrechen und die Zugangsweise blankzufegen; man betrügt ihn damit sogar um etwas Wesentliches. Anders als bei einem Kunstwerk ist der Bau hier niemals fertig und kann es auch gar nicht sein; genauso wichtig und noc20151210__MG_0057-QBSh wichtiger als das Ergebnis ist die Arbeit der Reflexion, und vielleicht ist es gerade das, was ein Autor vorweisen kann, wenn er denn etwas vorzuweisen hat." Castoriadis hat prinzipiell recht, irrt jedoch in dem einen Punkt, daß das Gesagte nicht für die Kunst gilt, was gerade Christoph Kerns Werke eindrucksvoll demonstrieren. Er zeigt, daß die Bildproduktion nicht nur eine handwerkliche, sondern auch eine intellektuelle Tätigkeit ist, daß es bei der Herstellung eines Gemäldes unterschiedliche Finales geben kann, und daß es in erster Linie eine subjektive Entscheidung darstellt, wenn ein Künstler sein Werk als abgeschlossen erklärt. Denn ein Gemälde ist potentiell nie fertig und der Prozeß des Malens unendlich fortsetzbar. So wird Kerns Unterscheidung in Sequenzen, Singulars und Relicts zu einer folgerichtigen, experimentellen Auseinandersetzung mit Malerei.

4. Digitalität und Animation

Das Abstrahieren bedeutet das Erstellen eines Codes. Mit ihm wird die Möglichkeit von Chaos auf ein Minimum reduziert. Ein puristischer Weg, der einen optischen, bisweilen sogar spirituellen Raum erzeugen kann. Der Code der berechenbaren Formen, in denen dem Würfel eine besondere Rolle zufällt, erscheint als ein mathematisch-elementarer, der Digitalität vergleichbar. Er besteht aus festen Einheiten, aus denen nahezu alle Arten von Figuren gebaut und der visuelle Raum zusammengesetzt werden kann. Vektoren bestimmen das Bild. Der Gebrauch einer digitalen Sprache fällt bei Christoph Kern mit der Arbeit mit dem Rechner zusammen. Die Digitalität der Computersprache korrespondiert hier mit dem abstrakten Bildsystem des Malers. Mit ihrer Hilfe kann er den Aufbau eines Bildes als tatsächlichen Akt des Bauens vorführen, etwa wenn er Entwürfe oder Zeichnungen mit dem ausgeführteren Zustand einer Bildidee in Zusammenhang bringt.

Für den französischen Philosophen Gilles Deleuze besteht die Realität aus zwei Modalitäten. Er unterscheidet zwischen aktueller und virtueller Existenz. Aktuell ist sie, wenn sie als Einheit wahrnehmbar und unterscheidbar wird. Die fortwährende Variation der Intensitäten, der Dimensionen und Qualitäten entspricht dagegen der Seinsweise des Virtuellen. Das Virtuelle steht also nicht im Gegensatz zur Wirklichkeit, sondern zum Aktuellen und ist Teil des Realobjektes. Zwischen dem Aktuellen und dem Virtuellen gibt es einen kontinuierlichen Übergang, so daß man nicht sagen kann, wo das Aktuelle endet und das Virtuelle beginnt. Genau diesen Übergang thematisiert Christoph Kern, wenn er Singularitäten und Sequenzen als gleichwertige Arbeitsformen zuläßt. Der aktuelle Zustand eines Gemäldes wird dabei grundlegend relativiert. Diese Arbeitsweise demonstriert, daß ein Gemälde nie fertig ist, sondern nur als fertig deklariert werden kann, daß eine materielle Fixierung letztlich nur eine Illusion, nur einen Moment, ein kurzes Innehalten eines längeren Prozesses darstellt.

Schon früh wollten Künstler die Bewegung und die Sprache der Abstraktion zusammenführen. Die aus der Dada-Bewegung kommenden Konstruktivisten Hans Richter und Viking Eggeling lehnten sich in ihren Bestrebungen an das alte Kommunikationsmittel des Rollenbilds an und versuchten damit, die abstrakte Formgebung als einen Prozeß darzustellen. Angeregt von der Notation in der Musik, war es für sie das geeignete Mittel, Bildzeichen aufeinanderfolgen zu lassen. Die aus diesen Überlegungen resultierenden Werke von extrem horizontalen und vertikalen Format konnten vom Betrachter nicht mehr auf einmal erfaßt werden, sondern das Auge wanderte das Gemälde in einer Linie ab. Diese Kompositionen aus klaren planimetrischen Formen waren meist in einzelne Abschnitte gegliedert. Später entwickelten Richter und Eggeling daraus den abstrakten Film. Die einzelnen Phasen wurden in Bewegung versetzt und erhielten somit eine zeitliche Dimension.

Sieht man vom taktilen Aspekt der Malerei einmal ab, können die Sequenzen von Christoph Kern durchaus mit den genannten Rollenbildern, und seine Computeranimationen, die ANIMs, mit den abstrakten Filmen der beiden Konstruktivisten in Verbindung gebracht werden. Auch das Konzept der "Universellen Sprache", das Richter und Eggeling im Jahr 1920 entwarfen, ist mit Kerns Systematierung im Baukastensatz zu vergleichen. Die Ideen der beiden Künstler werden am besten in Hans Richters in der Zeitschrift "De Stijl" abgedrucktem Text "Prinzipielles zur Bewegungskunst" festgehalten. Ihre "Universellen Sprache" basiert demnach auf einem Alphabet einfacher Formen, das ausgehend von der Malerei auf andere Bereiche übertragbar ist: "Die ästhetischen Prinzipien des Alphabets zeigen den Weg zum Gesamtkunstwerk, und zwar deswegen, weil diese Prinzipien, denen man sich undogmatisch, synthetisch bedient, nicht nur für die Malerei maßgebend sind, sondern in gleichem Maße für Musik, Sprache, Tanz, Architektur, Schauspiel." Diese von Richter und Eggeling entwickelte Sprache ist ebenso wie Kerns Bildsystem auf kein bestimmtes Medium, keinen bestimmten Träger festgelegt. Mit ihr kann sich der Künstler auch in virtueller Form artikulieren. Er kann sich auf das konzentrieren, das die Malerei ausmacht: die Visualisierung unsichtbarer Kräfte wie Spannung, Zeit, Gewicht und Druck. Denn Christoph Kerns Werk ist beides: Malerei und Reflexion der Malerei.

Justin Hoffmann

Versuchsbeschreibung

„Mit LEGO kann man alles bauen.“
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war der Werbeslogan des wichtigsten Spielzeuges meiner Kindheit. Den modularen Charakter dieses Spielzeuges übernahmen in meiner bildnerischen Arbeit auf ganz ähnliche Weise einfache geometrische Körper als Bildbaustein. Zu Anfang meines Bildsystems benützte ich als Auseinandersetzungsgegenstand einfache Holzbauklötze aus dem Spielzeugladen. Später bei den Cubic Worlds begann ich, die Vorlagen für meine Bilder in 3D-Konstruktionsprogrammen zu konstruieren. Ich erzeuge Animationen, die festlegen, auf welche Art- und Weise sich die Bildkörper durch den Bildraum bewegen, und welchen Transformationen, wie Form-, Textur und Beleuchtungsveränderungen sie ausgesetzt sind. Die auf diese Weise gewonnenen Bildkörper-Choreographien dienen als Anweisungen, wie sich die Bilder durch die Malebenen verändern und sorgen für das notwendige Veränderungspotential in den zu malenden Bildern.

Christoph Kern, Berlin, 1990 - 2016.