Justin Hoffmann – Die Quadratur der Malerei

Die Quadratur der Malerei

Zu den Arbeiten von Christoph Kern

Von Justin Hoffmann
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Quadratur: Inhaltberechnung einer beliebigen Fläche; Planetenstellung rechtwinklig zur Verbindungsache Erde-Sonne; eine architektonische Konstruktionsform, bei der ein Quadrat zur Bestimmung konstruktiv wichtiger Punkte verwendet wird.

1. Die Kunst des 20. Jahrhunderts als eine Geschichte des Würfels und des Quadrats

Das Fenster wird geschlossen. Das Gemälde ist nicht mehr Ausblick, sondern wird zum eigenen Körper, zu einem Gegenstand, mit einer ihm immanenten Struktur. Im Geiste des Materialismus und Wissenschaft suchten die Künstler nach den Elementen, aus denen das Gemälde aufgebaut ist. An der Wende zum 20. Jahrhundert kamen sie zum Resultat, daß der Bildgegenstand zwar nicht aus Atomen und Molekülen, aber aus geometrischen Körpern besteht, bestehen könnte.

Die Malerei der Moderne und die auf planimetrischen Körpern gebaute Bildstruktur ist eng mit dem Namen von Paul Cézanne verbunden. Denn Cezanne war es, der den Impressionismus wieder zu etwas Festem und Beständigen führen wollte. "Man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kegel und Kugel (...)" , sc20151210__MG_0054-QBS-002hrieb er 1904 an Emilie Bernard. Dabei wird die Bildwirklichkeit vom Betrachterstandpunkt abgelöst und in einen konstruktiv umwandelbaren Zusammenhang transformiert. Damit unterliegt das Bildgefüge eigenen Baugesetzmäßigkeiten. Der Künstler bestimmt die tektonische Lagerung der Körper oder Bilddinge. Gestalten wird Realisation. Trotzdem bleiben die Werke Cézannes stets Malerei in einem sensualistischen, taktilen Sinne. Mit Farben evoziert er Kontraste und "Modulationen" - einen Begriff, den Cézanne vom Bereich der Musik übernahm. Mit ihnen erichtet er sein Bildgefüge. Aus kohärenten Flächen von Farbflecken bringt er Körper hervor. "Flächen in der Farbe, Flächen! Der farbige Ort, wo die Seele der Flächen in eins schmilzt, die Wärme des Prismas, die man erreicht, die Begegnungen der Flächen in der Sonne (...)" , bekundet der Künstler euphorisch. Die Töne ergeben wie von selbst das Bild.

Auf Kasimir Malewitschs "Schwarzes Quadrat" aus dem Jahr 1915 fällt der Kubus gleichsam in sich zusammen und reduziert sich auf eine frontale Ansicht, auf eine quadratische Fläche, auf ein dunkles Tor, das den Weg ins Unendliche bahnt. Ein Naturbezug ist nicht mehr zu erkennen. Dieses Werk, eine Inkunabel der Malerei des 20. Jahrhunderts, evoziert statt dessen eine imaginäre, virtuelle Dreidimensionalität. Später, in den Werken von El Lissitzky und Josef Albers erhält das Quadrat wieder eine unmittelbar räumliche Dimension, ohne dabei auf die Zentralperspektive zurückzugreifen, bei Lissitzky durch den strukturell-architektonischen Gebrauch des Quadrats und bei Albers durch den Farbkontrast. Dabei stellt diese ideale Form für Albers eigentlich nur das Mittel dar, um die Wechselwirkung der verschiedenen Farbtöne und Helligkeiten systematisch zu erforschen. In der Minimal Art der sechziger Jahre wird das Ausdruckspotential des Künstler gänzlich auf wenige, axiomatische Kategorien begrenzt. Besonders im Oeuvre von Sol LeWitt gewinnt der Kubus nun als reinste dreidimensionale Form, die auf nichts als sich selbst verweist, wieder eine zentrale Bedeutung in Malerei und Skulptur. Mit der Welle der Neogemeometrie und des Radical Painting in den achtziger Jahren erfüllten Kubus und Quadrat eine differente, eine metaphorischere Funktion. Peter Halley bespielsweise nennt die Formen im Zentrum seiner Bilder, welche meistens Quadrate sind, "cells". Sie sind von einem klar abgesetzten Bildraum umgeben. Die Farbstreifen oder -bänder, die diese beiden Bereiche miteinander verbinden, haben diagrammatischen Charakter. Sie lassen an die Leitungen, Kanäle und Kabel, die von einem urbanen Bauwerk ausgehen, denken und verweisen somit auf die Organisation der Logistik und Kommunikation in einer Großstadt. Die Bildkomposition repräsentiert somit die rationale Strukturierung unserer Lebenswirklichkeit.

2. Ambivalenzen

In gewisser Weise ist es paradox, wenn Christoph Kern ausgerechnet Würfel und Quader für seine Beschäftigung mit Malerei heranzieht. Denn der Kubus als mathematisch-konstruierte Form, als objektiv berechenbarer, geometrischer Körper stellt ein Fundament des rationalen, kartesianischen Denkens dar, während das Malen als subjektive Geste, behaftet mit Elementen des Zufällig-Flüssigen, dagegen als Ausdruck der handwerklichen, individuellen Herstellung gelten kann. In der Darstellung von Würfeln oder Quadern sind die gestalterischen Spielräume deutlich begrenzt. Entsprechend ambivalent verhält es sich, wenn Christoph Kern bei seiner Arbeitsweise von einem System spricht, denn Malerei, gerade wenn sie Spuren des Herstellungsprozesses hinterläßt, kann nie wirklich im Sinne eines wissenschaftlichen Anspruchs systematisiert werden. Das System bleibt hier ein stets subjektives und offenes. Es fungiert als ein Weg, sich auf bestimmte Ausdrucksmöglichkeiten zu konzentrieren. Das System des Bildbausatzes erinnert nicht allein wegen ihren Namensnähe zu Bauklötzen an die Regeln eines Spiels, eines Spiels, dessen Reglement sich mit jeder neuen Runde wieder ändern kann.

Gewöhnlich besteht der Malakt darin, auf den Malakt zu reagieren. Es werden Markierungen gesetzt, Farbe hingestrichen, Zonen geklärt und Flecken verwischt. Bei Christoph Kern ist dieser Malprozeß mit der Idee der Darstellung geometrischer Körper, von sogenannten Bausätzen verbunden. Wobei der Künstler darauf achtet, jeden narrativen Ausdruck zu vermeiden. Dem Betrachter erscheinen die geometrischen Figuren als Faktum, als Ereignis. Farbe und Körper werden dabei zu einer sensitiven Einheit. Obgleich der Malakt die Handlung ist, die diese Körper hervorbringt, steht sie diesem Vorhaben aber auch im gewissen Sinne entgegen. Denn Malerei und Körper scheinen sich in ihren Ambitionen zu widersprechen. Wenn Kern seine Bausätze produziert, dann streckt er mit seinen Pinselstrichen beispielsweise Flächen in die Länge, rundet Ecken ab oder entschärft Kanten. So als wenn die Maßeinheit, das Medium Malerei eine Verzerrung dieser elementaren Körper verlangen würde, als wenn man die figurativen Einheiten durch transzendente, der Malerei immanente Einheiten ersetzen müßte. "Wie das Auftauchen einer anderen Welt", bescheibt es Gilles Deleuze", "denn diese Marken, diese Striche sind irrational, unwillkürlich, zufällig, frei, planlos. Sie sind nicht-repräsentativ, nicht-illustrativ, nicht-narrativ. (...) Sie sind Empfindungsmarken, allerdings von verworrenen Empfindungen (die verworrenen Empfindungen, die man bei der Geburt mitbringt, sagte Cézanne)." In diesem Sinne muß das von Christoph Kern entworfene System als ein relatives, da nach subjektiven Kriterien erstellt, begriffen werden, das den Künstler aber vor dem Chaos, dem unendlichen Potential der Abstraktion zu bewahren weiß.

Auch eine Grundfläche dient ihm als Halt. Um seine Körper positionieren zu können, brauchte er eine Ebene, ein geeignetes Plateau, eine Spielfläche, die, da sie Raum andeuten soll, sich nach hinten auszudehnen scheint. Dabei entsteht eine Spannung zwischen der Bildfläche, die dem Betrachter frontal entgegentritt, und der Ebene, die er als den Boden, auf dem die geometrischen Figuren stehen, wahrnimmt.

Stets muß der Künstler darauf achten, das figurative Gefüge der Bildgegenstände und die konstitutiven Aspekte der Malerei aufeinander abzustimmen. Die Flecken, Zonen und Striche müssen mit den Repräsentationen von Würfeln und Quadern suggestiv harmonisieren und sich in einem visuellen Ensemble zusammenfinden. Der Farbauftrag erzeugt die faktischen Möglichkeiten, die Disposition, die den Eindruck von klaren, einfachen Körpern evozieren soll. Dabei nimmt der Betrachter alle diese Faktoren, die zwischen den Polen Ordnung und Chaos angesiedelt sind, nicht separat und nacheinander, sondern gemeinsam und ganz unmittelbar als pikturale Erfahrung wahr.

3. Gebaute Malerei

Christoph Kern ist kein Purist Clement Greenbergscher Prägung. Er läßt assoziatives Wahrnehmen ausdrücklich zu. An seinen Kompositionen kann der Betrachter durchaus eine symbolische Ebene entdecken. Und identifiziert man die geometrischen Formen als Körper auf einer Ebene, wie auf einem Tisch liegend, und betrachtet die Darstellung somit als Stilleben, liegt man keineswegs fehl. Christoph Kern ist in der Tat ein Bewunderer der Stilleben Morandis und kann sich in der Iteration, in der Variation des scheinbar Gleichen, auf diesen Maler mit Recht berufen. Nimmt der Rezipient Kerns Formationen aber in einem ganz anderen, größeren Maßstab wahr, kann er darin sogar Entwürfe von Stadtlandschaften, Gemälde von Architekturen erkennen. Sein "Bildsystem Bildbausatz" enthält nicht von ungefähr das Wort "Bau". In der Tat ähnelt die Tätigkeit des Malers Christoph Kern, der eines Architekten oder Stadtplaners. Auf einer festgelegten Fläche werden elementare Ordnungsprinzipien erprobt und modellhaft vorgeführt, so als wenn ein Stück Land zu bebauen wäre.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß seit Beginn der Moderne in der Architektur noch viel mehr als in der Malerei und der Bildhauerei die einfachen geometrischen Formen eine dominante Stellung einnahmen, die erst mit postmodernen und dekonstruktivistischen Strömungen kurzzeitig verloren ging. Aber auch in der Architektur der Gegenwart besitzt der Kubus eine zunehmende Bedeutung. Den quadratischen Raster findet man heute an Bauwerken so unterschiedlicher Architekten wie Richard Meier, Arata Isozaki und Peter Eisenman. Owald Mathias Ungers wählte das Quadrat und damit den Kubus als Ausgangsform für Architekturen, die nicht von einer Funktion bestimmt, sondern selbst Ausdruck einer architektonischen Sprache sein sollen. Das Quadrat bildet für ihn dabei die ideale, klare, zeitlose Form. Es wurde zum Kennzeichen seiner Bauweise.

Im Vorwort zu seinem Buch "Gesellschaft als Imagination" bezeichnet der Philosoph Cornelius Castoriadis seinen Text als work in progress und schreibt dazu: "Eigentlich sollte das eine Selbstverständlichkeit sein: Bei einer Arbeit der Reflexion ist es für den Leser keineswegs von Vorteil, das Baugerüst abzubrechen und die Zugangsweise blankzufegen; man betrügt ihn damit sogar um etwas Wesentliches. Anders als bei einem Kunstwerk ist der Bau hier niemals fertig und kann es auch gar nicht sein; genauso wichtig und noc20151210__MG_0057-QBSh wichtiger als das Ergebnis ist die Arbeit der Reflexion, und vielleicht ist es gerade das, was ein Autor vorweisen kann, wenn er denn etwas vorzuweisen hat." Castoriadis hat prinzipiell recht, irrt jedoch in dem einen Punkt, daß das Gesagte nicht für die Kunst gilt, was gerade Christoph Kerns Werke eindrucksvoll demonstrieren. Er zeigt, daß die Bildproduktion nicht nur eine handwerkliche, sondern auch eine intellektuelle Tätigkeit ist, daß es bei der Herstellung eines Gemäldes unterschiedliche Finales geben kann, und daß es in erster Linie eine subjektive Entscheidung darstellt, wenn ein Künstler sein Werk als abgeschlossen erklärt. Denn ein Gemälde ist potentiell nie fertig und der Prozeß des Malens unendlich fortsetzbar. So wird Kerns Unterscheidung in Sequenzen, Singulars und Relicts zu einer folgerichtigen, experimentellen Auseinandersetzung mit Malerei.

4. Digitalität und Animation

Das Abstrahieren bedeutet das Erstellen eines Codes. Mit ihm wird die Möglichkeit von Chaos auf ein Minimum reduziert. Ein puristischer Weg, der einen optischen, bisweilen sogar spirituellen Raum erzeugen kann. Der Code der berechenbaren Formen, in denen dem Würfel eine besondere Rolle zufällt, erscheint als ein mathematisch-elementarer, der Digitalität vergleichbar. Er besteht aus festen Einheiten, aus denen nahezu alle Arten von Figuren gebaut und der visuelle Raum zusammengesetzt werden kann. Vektoren bestimmen das Bild. Der Gebrauch einer digitalen Sprache fällt bei Christoph Kern mit der Arbeit mit dem Rechner zusammen. Die Digitalität der Computersprache korrespondiert hier mit dem abstrakten Bildsystem des Malers. Mit ihrer Hilfe kann er den Aufbau eines Bildes als tatsächlichen Akt des Bauens vorführen, etwa wenn er Entwürfe oder Zeichnungen mit dem ausgeführteren Zustand einer Bildidee in Zusammenhang bringt.

Für den französischen Philosophen Gilles Deleuze besteht die Realität aus zwei Modalitäten. Er unterscheidet zwischen aktueller und virtueller Existenz. Aktuell ist sie, wenn sie als Einheit wahrnehmbar und unterscheidbar wird. Die fortwährende Variation der Intensitäten, der Dimensionen und Qualitäten entspricht dagegen der Seinsweise des Virtuellen. Das Virtuelle steht also nicht im Gegensatz zur Wirklichkeit, sondern zum Aktuellen und ist Teil des Realobjektes. Zwischen dem Aktuellen und dem Virtuellen gibt es einen kontinuierlichen Übergang, so daß man nicht sagen kann, wo das Aktuelle endet und das Virtuelle beginnt. Genau diesen Übergang thematisiert Christoph Kern, wenn er Singularitäten und Sequenzen als gleichwertige Arbeitsformen zuläßt. Der aktuelle Zustand eines Gemäldes wird dabei grundlegend relativiert. Diese Arbeitsweise demonstriert, daß ein Gemälde nie fertig ist, sondern nur als fertig deklariert werden kann, daß eine materielle Fixierung letztlich nur eine Illusion, nur einen Moment, ein kurzes Innehalten eines längeren Prozesses darstellt.

Schon früh wollten Künstler die Bewegung und die Sprache der Abstraktion zusammenführen. Die aus der Dada-Bewegung kommenden Konstruktivisten Hans Richter und Viking Eggeling lehnten sich in ihren Bestrebungen an das alte Kommunikationsmittel des Rollenbilds an und versuchten damit, die abstrakte Formgebung als einen Prozeß darzustellen. Angeregt von der Notation in der Musik, war es für sie das geeignete Mittel, Bildzeichen aufeinanderfolgen zu lassen. Die aus diesen Überlegungen resultierenden Werke von extrem horizontalen und vertikalen Format konnten vom Betrachter nicht mehr auf einmal erfaßt werden, sondern das Auge wanderte das Gemälde in einer Linie ab. Diese Kompositionen aus klaren planimetrischen Formen waren meist in einzelne Abschnitte gegliedert. Später entwickelten Richter und Eggeling daraus den abstrakten Film. Die einzelnen Phasen wurden in Bewegung versetzt und erhielten somit eine zeitliche Dimension.

Sieht man vom taktilen Aspekt der Malerei einmal ab, können die Sequenzen von Christoph Kern durchaus mit den genannten Rollenbildern, und seine Computeranimationen, die ANIMs, mit den abstrakten Filmen der beiden Konstruktivisten in Verbindung gebracht werden. Auch das Konzept der "Universellen Sprache", das Richter und Eggeling im Jahr 1920 entwarfen, ist mit Kerns Systematierung im Baukastensatz zu vergleichen. Die Ideen der beiden Künstler werden am besten in Hans Richters in der Zeitschrift "De Stijl" abgedrucktem Text "Prinzipielles zur Bewegungskunst" festgehalten. Ihre "Universellen Sprache" basiert demnach auf einem Alphabet einfacher Formen, das ausgehend von der Malerei auf andere Bereiche übertragbar ist: "Die ästhetischen Prinzipien des Alphabets zeigen den Weg zum Gesamtkunstwerk, und zwar deswegen, weil diese Prinzipien, denen man sich undogmatisch, synthetisch bedient, nicht nur für die Malerei maßgebend sind, sondern in gleichem Maße für Musik, Sprache, Tanz, Architektur, Schauspiel." Diese von Richter und Eggeling entwickelte Sprache ist ebenso wie Kerns Bildsystem auf kein bestimmtes Medium, keinen bestimmten Träger festgelegt. Mit ihr kann sich der Künstler auch in virtueller Form artikulieren. Er kann sich auf das konzentrieren, das die Malerei ausmacht: die Visualisierung unsichtbarer Kräfte wie Spannung, Zeit, Gewicht und Druck. Denn Christoph Kerns Werk ist beides: Malerei und Reflexion der Malerei.

Justin Hoffmann